"Die Stadtentdecker" bauten Frankfurt (Oder) um
In einem Stadtspaziergang vom ‚Winzerviertel‘ durch die Plattenbauten ‚Gelbe Presse‘ bis runter nach Altberesinchen, an Neuberesinchen vorbei durch den Durchgangstunnel in der ‚Große Müllroser Straße‘ nach Klenksberg und zum Fischerkietz, nachfolgend Stadion der Freundschaft über die alte Oder zur Insel Ziegenwerder und weiter an der Europa-Universität in die ‚historische Mitte‘ und auf den Oder-Turm mit Blick auf den Brunnenplatz, schließlich von dort über die ‚große Magistrale der Karl-Marx-Straße‘ bis zur Oderpromenade über das ‚Kartoffelhaus‘ zum Marktplatz verlief die Route der Schülerinnen und Schüler der 9. Klasse der Freien Waldorfschule in Frankfurt (Oder) Ende 2016.
In einem Stadtspaziergang vom ‚Winzerviertel‘ durch die Plattenbauten ‚Gelbe Presse‘ bis runter nach Altberesinchen, an Neuberesinchen vorbei durch den Durchgangstunnel in der ‚Große Müllroser Straße‘ nach Klenksberg und zum Fischerkietz, nachfolgend Stadion der Freundschaft über die alte Oder zur Insel Ziegenwerder und weiter an der Europa-Universität in die ‚historische Mitte‘ und auf den Oder-Turm mit Blick auf den Brunnenplatz, schließlich von dort über die ‚große Magistrale der Karl-Marx-Straße‘ bis zur Oderpromenade über das ‚Kartoffelhaus‘ zum Marktplatz verlief die Route der Schülerinnen und Schüler der 9. Klasse der Freien Waldorfschule in Frankfurt (Oder) Ende 2016.
Im Rahmen des Projekts „Die Stadtentdecker“ erkundeten sie, begleitet von ihrem Lehrer Steffen Schmolke und dem Landschaftsarchitekten Mario F. Berríos Miranda, zahlreiche Orte in Frankfurt (O). Gemeinsam näherte man sich in einer ersten Betrachtung den unterschiedlichen Orten.
Etwa die Hälfte der Schülerinnen und Schüler kommen aus Frankfurt (Oder), die andere aus der Umgebung. Wo sich das Schnellrestaurant „Subway“ befindet und wo man sich im Zentrum trifft und wie man dort hinkommt, war den meisten bekannt. Dass Frankfurt (O) nicht immer so aussah, war dagegen den wenigsten bewusst. Ebenso war kaum gegenwärtig, dass Frankfurt (O) als Siedlungsform nicht zufällig entstanden war.
In Altberesinchen ließen wir uns von dem anderen Blick auf die Atmosphäre des – für einige der Jugendlichen bekannten – Durchgangstunnels in der ‚Große Müllroser Straße‘ inspirieren.
Dass die Parkgestaltung der Insel Ziegenwerder auf die Umgestaltung des 2003 stattgefundenen Gartenfestivals Europagarten zurückzuführen ist und dass der westliche Bereich auf dem Schutt der im Krieg zerstörten Stadt steht, war für alle neu. Hier entwickelten die Schülerinnen und Schüler erste verbale Ideen und Wünsche zur Verbesserung der Aufenthaltsqualitäten und zur Aufwertung der Parkanlage mit Möglichkeiten zur Aneignung durch junge Menschen.
In der „Altstadt“ am Brunnenplatz angekommen, besuchten wir den Oder-Turm und konnten vom 18. Stock aus einen Perspektivwechsel auf das Stadtzentrum vornehmen. Am Brunnenplatz erfuhren wir, dass die Stadt Frankfurt (O) die wirtschaftlichste und kulturreichste Siedlungsform für das Gemeinschaftsleben der Menschen im Einzugsgebiet war bzw. ist. Dass der Brunnenplatz über kaum oder (zu) wenig Aufenthaltsqualität verfügt, um als geografischer und kultureller Mittelpunkt der Stadt zu fungieren, wurde schnell zum Hauptbestandteil der kritischen Betrachtung der Schülerinnen und Schüler. Die Jugendlichen machten schnell das Zentrum der Stadt am Brunnenplatz und in der Magistrale aus. Sie bemängelten trotz Hinführung die gestalterische Ansprache und sie identifizierten sich kaum mit den Merkmalen des Ortes. Sie haben keinen Bezug zum Ort, er „ist nicht ihrer“.
An anderer Stelle spürten die Schülerinnen und Schüler das eher, der Karl-Marx-Straße z.B. In der Magistrale projizierten selbst die Jugendlichen aus ihrem spezifisch kognitiven, (noch) jungen Leben eine Erinnerung, dass sie noch vor wenigen Jahren mit ihren Eltern in der kulturell und wirtschaftlichen, belebten Magistrale entlang flanierten.
Dieser fehlende Anreiz für jüngere Menschen, entlang ebenfalls wenig identitätsstiftender Konsumtempel bis zur Oderpromenade, bestimmte die Wahrnehmung der Jugendlichen in diesem Gebiet. Vor allem die Sorge um fehlende, bleibende identitätsstiftende Möglichkeiten versetzte sie in zunehmende Ratlosigkeit. In Frankfurt zu bleiben oder, wenn die Zeit gekommen ist, in für sie lebenswerter erscheinende Regionen abzuwandern.
Hier erkannten einige, dass sie sich den Raum aneignen müssen, damit diese Stadt Möglichkeiten des sozialen Miteinanders nachhaltig entwickeln kann und allen sich dort tatsächlich aufhaltenden Bevölkerungsteilen Erlebnis- und Wohlfühlbereiche anbietet. Das trifft ebenso zu auf eine harmonische Entwicklung von Möglichkeiten der Vermittlung der Erinnerung und Identifikation mit ihrer Stadt. Das wird deutlich aus der Diskrepanz, die die Jugendlichen zwischen ihren alterstypischen Lebensansprüchen und doch auch ihrer Sorge um Einbindung in familiäre und weitere soziale Gemeinschaften empfinden. Sie artikulieren jugendtypisch ihre Art und Erfahrungen der Verbundenheit mit ihrer Heimat und gleichzeitig ihre verständlicherweise diffusen Beobachtungen zu vermeindlich fehlenden kulturellen und beruflichen Angeboten der Stadt und der Region.
Diese und andere Überlegungen flossen in erste konzeptionelle Überlegungen und Entwürfe ein, die Anfang 2017 in der Projektwoche mit Bildern und Modellen der Schülerinnen und Schülern gestaltet wurden.
Hier bildeten sich Gruppen heraus, die sich mit unterschiedlichen Aspekten in ihrem Lebensumfeld beschäftigten. Die einen nahmen sich ihren Schulhof vor und wie man ihn schöner machen könnte. Andere eroberten das Zentrum um den Brunnenplatz zurück und schufen anstelle des alles dominierenden Parkplatzes, dem der Brunnenplatz vor einigen Jahren weichen musste, einen Park: den ‚Brunnenpark‘ als einen ‚Brunnenplatz für alle‘.
Andere revitalisierten mit ihren Ideen den Trimm-dich-Pfad auf dem Ziegenwerder und wieder andere gestalteten dort einen neuen Treffpunkt für ‚Jugendliche mit Perspektive‘. Ein weiterer Schüler entwickelte ein Ausstellungskonzept für die Gehwegs- und Platzflächen in der Stadt, mit dem Ziel der „immer nur nach unten schauenden Generation“ den Blick fürs Wesentliche und Schöne zu eröffnen. Dafür sollen mittels temporärer Freiluftausstellungen lokale und regionale Künstler die Böden der Stadt bunt bemalen: So würde Frankfurt und seine öffentlichen Räume zur Gemäldegalerie.
Eine weitere Gruppe nahm sich den Umbau ihrer Stadt vor, um Szenarien einer „idealen“ Stadt denken zu können. Dafür bauten sie erst einmal ein Modell der Innenstadt, um daran Ideen und Konzepte zu überprüfen und Visionen weiterzuentwickeln. Die Schülergruppe wagte eine komplett neue Vision für Frankfurt (O). In diesem Szenario gäbe es im Zentrum kaum noch Straßen, sondern die Häuserfluchten würden von Grachten und Kanälen durchzogen. Ein anderes Frankfurt wäre möglich, nicht eines an dem die Oder vorbeifließt, sondern ein Frankfurt, dessen Stadtbildcharakter von Wasser geprägt wäre. Hier entstünde durch den alles umspannenden Fluss eine Stadtlandschaft, die das Leben und die Arbeit der Menschen neu definiert: Wassertaxis, Brücken und mit mehr Akzenten für Frankfurt als „bunteste“ Stadt am Wasser - eine neue Urbanität erschaffen.
Eine Schülerin hatte die Idee von unterschiedlich ausgeformten, bunten Betonquadern, die an immer anderen Stellen in der Stadt als Orte zum Verweilen, zum Treffen oder Klettern für „kleine Menschen“ aufgestellt werden könnten. Die Wiederholung der aufgestellten Quader in der Stadt wäre der „bunte“ Faden an verschiedenen Orten mit unterschiedlicher Aufenthaltsqualität.
Mit viel Freude präsentierten die Jugendlichen am 30. März im Ratssaal der Stadt die Resultate ihrer kreativ-kritischen Betrachtungen. Jede Gruppe präsentierte im Wechsel ihre Visionen und Teilvisionen für ihre Stadt.
Der Beigeordnete der Stadt Frankfurt (O), Herr Derling, und Herr Bock vom Stadtplanungsamt versprachen, die Ideen und Visionen im Beisein der Schülerinnen und Schüler weiteren verantwortlichen Stellen in der Stadt vorzustellen.
Mario F. Berríos Miranda, projektbegleitender Landschaftsarchitekt
Beitrag in: Deutsches Architektenblatt 07/2017