Christian Porath
Sichtachsen entdecken
Im Alltag und der natürlichen Umgebung gibt es Sichtachsen, die in der Regel gar nicht wahrgenommen werden. Dazu braucht jeder Mensch eine Sensibilisierung für dieses Phänomen.
Im Alltag und der natürlichen Umgebung gibt es Sichtachsen, die in der Regel gar nicht wahrgenommen werden. Dazu braucht jeder Mensch eine Sensibilisierung für dieses Phänomen.
Eine Sichtachse ist eine Schneise durch den Raum, die einen freien, geraden Blick in die Weite ermöglicht.
Die Betonung der Tiefe des Raumes entsteht fast automatisch durch die Anlage langer, gerader Wege und Straßen, die häufig als Alleen angelegt sind. Mit Hilfe dieser Konstruktion wird der Blick meist auf ein besonderes Element gerichtet, das am Ende der Achse sichtbar ist. Dadurch wird die Bedeutung dieses Objekts wesentlich hervorgehoben.
Die Planung ist meist das Ergebnis sorgfältiger Überlegungen, die mitunter erhebliche Eingriffe in die gewachsenen Strukturen von Siedlungen wie auch Landschaften zur Folge haben.
Häufig sind auch politisch-gesellschaftliche Ambitionen ideengebend, insbesondere für die Wahl des Blickpunktes (engl.: point of view, frz.: point de vue), der häufig alles andere überragt und somit auch als „Stadtmarke“ dienen kann. So kann man sich als Besucher in einer Stadt leicht an zentral sichtbaren Bauwerken, wie z.B. Denkmälern, Türmen oder besonderen Elementen wie Obelisken und Triumphbogen, orientieren.
Berühmte Beispiele in Potsdam sind das Brandenburger Tor und die Kirche St. Peter und Paul, die durch die blickfreie Brandenburger Straße verbunden sind. Bemerkenswert ist auch die Analyse vorhandener Sichtachsen im Stadtbild Potsdams (vgl. Quellen).
Bei der Gestaltung von Grünanlagen werden Sichtachsen von jeher gerne als strukturbildende Elemente verwendet.
Parks unterlagen immer auch zeitgenössischen Bedingungen und Absichten. Im feudalen Barock (spätes 16. bis 18. Jhd.) bevorzugte man einen „geordneten“ Umgang mit der Natur. Daraus ergaben sich v.a. geradlinige Wege, die Blicke zu entfernten Schlössern, Zitadellen und Kirchen fast automatisch freigaben.
Umgekehrt wurden auch die Standorte neuer Bauten entsprechend der Weggestaltung gewählt.
Ein typisches Beispiel ist die barocke Gartenanlage von Sanssouci in Potsdam. Hier wurden schon erste, scheinbar „zufällige“ Blicke ermöglicht.
Mit dem englischen Parkstil (18. Jhd.) wandte man sich von dem Gedanken der geordneten Natur ab und versuchte, eine möglichst natürlich erscheinende Landschaft zu planen. So verschwanden die geraden Wege, umso wichtiger wurden die „zufällig“ erscheinenden Sichtachsen. Diese waren meist nicht mehr begehbar, sondern dienten alleine dem Lenken des Blicks auf Skulpturen, kleine Tempel, Springbrunnen und andere Verspieltheiten und Strukturelemente im Park sowie (weiterhin) auf entfernte Bauwerke.
Das besondere an diesen „unerwarteten“ Sichtachsen ist die Überraschung, wenn man sie wahrnimmt. So kann man häufig den Park durchschritten haben und hat dennoch nur ein Bruchteil der möglichen Weitblicke wahrgenommen.
Ein überregional berühmtes Beispiel dafür ist der Wörlitzer Park bei Dessau als Teil des Gartenreichs Dessau-Wörlitz. Obwohl er über einhundert Sichtachsen enthält, hat der durchschnittliche Parkbesucher meist nur eine wenige bei seinem Besuch wahrgenommen. So kann man bei wiederkehrenden Besuchen auch immer wieder Neues entdecken, so dass der Park auch nach mehrmaligen Besuchen noch interessant bleibt.Typisches Beispiel im Land Brandenburg ist der „Neue Garten“ in Potsdam, der später als der Park Sanssouci und deshalb schon im Stil des englischen Landschaftsgartens entstand. Später bekam Peter Joseph Lenné die Gelegenheit zur Überarbeitung des Gartens, die auch die Schaffung neuer Sichtachsen beinhaltete.
Das besondere an Sichtachsen ist, dass es sehr viele (geplante und zufällige) in der gelebten Umgebung gibt, die wir meist gar nicht wahrnehmen. So, wie man als Sehbehinderter die optischen Reize der Umwelt anders einordnet, so ist das Wahrnehmen der Sichtachsen auch Teil einer veränderten Wahrnehmung des Umfeldes. Der übliche Unterschied liegt in der Aufmerksamkeit und Blickrichtung. Ein interessantes Beispiel wird beschrieben von Dr. Hans-Jürgen Krug in seinem Beitrag „Mobilität und Orientierung: Sichtachsen“ (vgl. Quellen).
So wird in der japanischen Gartenkunst, die häufig versucht, die umgebende Landschaft optisch mit einzubeziehen, den Übergang zwischen zwei Blicksituationen dadurch überbrückt, in dem unterschiedliche Bodenbelägen verwendet werden. Der Spazierende muss bei schwierigen Teilstrecken den Blick nach unten senken, um nicht zu stürzen, bis der Belag wieder besser begehbar wird. Dann hebt er den Blick und steht in einer neuen Situation mit neuen Sichten.
Wünschenswert wäre als Ergebnis der Auseinandersetzung mit dem Thema der Sichtachse ein differenzierteres Erfassen der sichtbaren Umwelt. Hat man einmal selbst die Überraschung und die Freude erlebt, wenn man eine Sichtachse entdeckt hat, wird man sich immer wieder auf der Suche danach befinden und auch im persönlichen Bereich mitunter solche entdecken können.
Kurz gesagt: man gewöhnt sich daran, öfter mal den Blick zu heben, auch, wenn gar nichts Besonderes zu erwarten ist.